Foto-Museum Uhingen


Fotohistorische Sammlung G.+ W. Pabst





Herzstücke unserer Sammlung


Die Kodak Retina (und die Kodak-Patrone)


Die Retina (Typ 117) der Kodak AG aus dem nahegelegenen Stuttgart-Wangen hat die Geschichte der Fotographie stärker beeinflusst als die vielgerühmte Leica.

Zum Hintergrund: Die Leica, der oft nicht nur die Kleinbildfotographie zugeschrieben wird, sondern auch die Einführung der Kompaktkamera überhaupt, war in Wirklichkeit die Kamera, die den Nachweis führte, dass mit dem kleinen Format tatsächlich hochqualitative Bilder gemacht werden konnten, die auch professionellen Ansprüchen genügten. Auf die Rolle der Filmemacher, deren Entwicklungen bei Empfindlichkeit und Auflösung dies möglich gemacht hat, wird dabei meist überhaupt nicht eingegangen.


Die Ur-Retina von 1934


Fakt ist, dass die Leica und ihr schnell aufgetauchter Edel-Konkurrent – die Contax von Zeiss Ikon - sich recht schnell bei Profis etablierten, aber sie waren auch für den Amateur ein sehr gehobener Luxus. Die Qualität kostete ihren Preis und es war recht mühsam, mit den für jede Kamera anderen Kassetten umzugehen. Und so war sie eben ein Objekt für den wohlhabenderen Amateur oder die Profis.

Doch dann wurden zwei epochale Dinge von der Kodak AG in Stuttgart vorgestellt. Als erstes eine neue Kassette (meist Patrone genannt) für den 35 mm-Film, die aus relativ einfachem Blech geprägt war und bei der die Lichtabdichtung durch eine Samtmanschette im Filmschlitz erreicht wurde. Sie war in der Anwendung deutlich einfacher als die komplizierten Monster von Leitz oder Zeiss, deren Beschreibung in den Bedienungsanleitungen mehrere Seiten füllte.

Noch wichtiger war, dass die Kassette so ausgeklügelt war, dass sie in allen Kameras der bisherigen Marktführer problemlos verwendet werden konnte. Diese Kassette oder Filmpatrone, die später mal auf Kunststoff wechselte und zum Schluss noch Markierungen für die Vermittlung der Empfindlichkeitswerte an die Kamera bekam, kennen wir alle und ohne sie wäre der Siegeszug der Kleinbildfotographie nie möglich gewesen.


Die revolutionäre Kodak-Patrone, die den Siegeszug der Kleinbildfotographie ermöglichte


Und dass dies gelang, das ist ebenfalls der Verdienst der Konstrukteure in Stuttgart-Wangen unter der Führung von August Nagel. Sie bauten die erste preiswerte Kleinbildkamera für den Amateur. Die kleine Retina kostete nur 75 RM (die Leicas fingen etwas bei 150 RM an) und erbrachte den Beweis, dass auch eine preiswerte Kamera die für das kleine Format erforderliche Präzision erbringen konnte.


August Nagel (1882 - 1943), der "Vater" der Kodak Retina


Die Retina war bei Preis/Leistung unschlagbar. Sie hatte den kompakten Körper einer Klappkamera, die von unzähligen Rollfilmkameras bekannt war, aber sie verzichtete darauf, das Objektiv samt Verschluss, wie üblich, an der „Tür“ aufzuhängen. Bei der Retina dient die Tür nur zum Herausziehen des Objektivs, das von einer soliden Spreizenkonstruktion getragen wird und fest einrastet. Das sicherte eine präzisere Führung und besondere Robustheit. Dazu bekam sie ein anspruchsvolles Objektiv: einen lichtstarken Vierlinser (so genannter Tessar-Typ) von Schneider Kreuznach – das 3,5/5cm Xenar, sowie den damals führenden Verschluss für Qualitätskameras, ein Deckel Compur mit Zeiten von 1 Sekunde bis zu 1/300. (Gegen einen Aufpreis von 10 RM bekam man etwas später auch einen Compur-Rapid, der bis 1/500 ging und bis in die 50er Jahre der Top-Verschluss überhaupt war – neben den Schlitzverschlüssen der „Gehobenen“ natürlich).


Die Spreizenkonstruktion der Retina


Neben dem damals „optimalen“ kleinen optischen Sucher hatte sie auch innen etwas Neues zu bieten. Bei Leica und Contax wurde der Film (beim Spannen des Verschlusses) von Zahnrädern gezogen. Bei Kodak dachte man sich etwas anderes aus. Beim Transport wird der Film nicht von den Zahnrädern gezogen, sondern direkt von der Spule unter dem Transportknopf. Das verringert die Gefahr des Ausreißens der Perforation durch etwas ungestüme Amateur-Hände. Sie hat aber trotzdem ein Zahnrad, das aber nur mitläuft und dabei die Filmlänge abmisst und nach den von Barnack vorgegebenen acht Löchern den Transport anhält. Das war genial einfach und wurde praktisch von allen späteren Amateur-Kleinbildkameras übernommen - bis dann die Schnelltransport-Hebel in den frühen 50er Jahren wieder zum Zahnrad-Transport zurückkehrten.

Das Innenleben der Retina

mit dem neu entwickelten Filmtransport


Jedenfalls wurde die Retina und damit der 35mm-Film vom deutschen Markt begeistert aufgenommen und die gesamte Kamera-Industrie von Dresden bis München sprang ebenso begeistert auf den neuen Trend auf. Als Folge verschwanden die zu Beginn bis Ende der 30er Jahre beliebten Kompaktkameras (z.B. die Modelle Pupille und Vollanda 48 der Fa. Nagel, Stuttgart) vom Markt, für welche ein Rollfilm im Format 30x40 mm (Typenbezeichnung 127) angeboten wurden. Außerhalb Deutschlands war die Entwicklung langsamer. Man blieb in Frankreich, England oder Japan noch länger bei dem Rollfilm für die „Kameras in Taschengröße“, zum Teil bis in die frühen 50er Jahre.


Die Bedienunmgsanleitung der Retina von 1934


Die Retina wurde durch ständige Weiterentwicklungen zu einem Welterfolg, die von cleveren Konstrukteuren sogar zur nach wie vor einzigen klappbaren Systemkamera ausgebaut wurde (von der Wechseloptik bis zu Mikroskop- oder Stereovorsätzen und vieles mehr). Dies machte sie auch später zu einem der begehrtesten Sammelobjekte in Deutschland, während vieles andere aus ihrer Zeit nur noch Spezialisten bekannt ist.


Mount Everest-Erstbesteigung

mit einer Kodak Retina

Original-Anzeige von Kodak Stuttgart Wangen von 1953


Als am 29. Mai 1953 der Nepalese Tenzing Norgay und der Neuseeländer Edmund Hillary den Gipfel des Mount Everest bezwangen, konnte dieses Ereignis erstmals dokumentiert werden, und dies - Sie ahnen es schon - mit einer Kodak Retina (Typ 118 von 1935). Deshalb gilt dieser Gipfelsturm in der Fachwelt auch als Erstbesteigung des 8848 m hohen Daches der Welt, da zwar frühere Expeditionen möglicherweise auch zum Ziel führten, aber in Tragödien endeten und niemals Beweise in Form von Fotografien erbracht wurden.


Retina von 1954

Kompakt Hi Tec mit Teleobjektiv


1960 verließ man leider den Sonderstatus als Klappkamera und reihte die Retina (abgesehen von ihrem Reflexableger) in die damals relativ uniformen Anwender-Kameratypen ein und wurde immer mehr zur Einfach-Kamera. Das war der Anfang von Ende der Retina, bis der Name Mitte der 60er endgültig verschwand.

(Text Jost Simon)

Unser Museum ist stolz darauf, dass bei uns die erste Retina sowie spätere z.T. sehr seltene Weiterentwicklungen zu bestaunen sind.

 



Wie kam Eastman Kodak eigentlich nach Stuttgart, um dort Kameras zu bauen?